In den ersten Jahren nach ihrer Gründung verfügte die Deutsche Forschungsgemeinschaft nur über eng begrenzte Mittel, auch und in besonderem Maße in den Jahren der Hyperinflation. Sie konzentrierte sich deshalb „zunächst hauptsächlich darauf, wissenschaftliche Zeitschriften, Fortsetzungswerke und die großen Editionen der Akademien zu unterstützen, ausländische Periodika und Literatur zu beschaffen sowie die Forschung mit Arbeitsmaterialien und Versuchstieren zu versorgen“ (Flachowsky, 2008: 92).
Als die größten Engpässe überwunden waren, unternahmen Fritz Haber, einer der zentralen Wegbereiter der Gründung der Notgemeinschaft (und bis 1933 ihr Vizepräsident), und Friedrich Schmidt-Ott, DFG-Präsident bis 1934, den Versuch, die Notgemeinschaft als starken Akteur zu positionieren. Eine Möglichkeit hierzu sahen sie vor allem in der Bündelung von Forschungsprojekten zu den „großen Forschungsaufgaben auf dem Gebiete der nationalen Wirtschaft, der Volksgesundheit und des Volkswohles“. Erfolgen sollte diese Bündelung im Rahmen definierter „Gemeinschaftsarbeiten“ (GEM), einem Programm, das mit dieser Initiative neu gegründet wurde.
Nachdem beide die Gremien der DFG – Präsidium und Hauptausschuss – von ihrem Anliegen überzeugt hatten, wandten sie sich am 25. Mai 1925 in Form von zwei Denkschriften an die Reichsregierung und den Reichstag. Die Rolle der Wissenschaft im politischen System wurde von Schmidt-Ott dabei deutlich akzentuiert: Ihr komme die Funktion zu, „dem außerordentlich geschwächten Deutschland […] neue Entwicklungsmöglichkeiten zu gewinnen, die es an dem durch den Krieg der Völker gesteigerten Wettbewerb auf dem Weltmarkt teilzunehmen befähigen und ihm die für erfolgreiches Weiterschreiten unentbehrliche Volkskraft zu stärken“. Da die Rohstoffgebiete Deutschlands „durch den Friedensvertrag so enorm gekürzt und geschwächt“ seien, müsse ein Ausgleich geschaffen werden. Dieser Ausgleich, so argumentiert er abschließend, liege „in einer viel engeren Verbindung von Wissenschaft und Wirtschaft, um mit spezialwissenschaftlicher Forschung der Wirtschaft neue Wege zu bahnen“ (Flachowsky, 2008: 81).
Die GEM-Initiative hatte also zum Ziel, die Förderung gezielt auf Forschungsaufgaben auszurichten, die sowohl von wissenschaftlichen als auch von industriellen Experten getragen werden sollten. Als „nationalwichtig“ galt dabei nicht zuletzt das Militär, weshalb auch rüstungsrelevante Nutzungsszenarien eine Rolle spielten.
Tatsächlich hatte die Initiative Erfolg. Die DFG erhielt mit einem Schlag eine für die damalige Zeit üppige Aufstockung des Budgets um 5 Millionen Reichsmark, um diese gezielt für Gemeinschaftsarbeiten einzusetzen. Im Vergleich zum Budget des Jahres 1926 entsprach dies immerhin einer Steigerung von etwa 30 Prozent. Mit dem Instrument der Gemeinschaftsarbeiten war es der Leitung der DFG gelungen, diese von einem „Provisorium der Nothilfe“ zu einem Pfeiler im deutschen Forschungssystem reifen zu lassen (Flachowsky, 2008: 76).
Mit der Überführung der DFG in den Reichsforschungsrat (RFR) waren allerdings auch die Gemeinschaftsarbeiten schon wieder Geschichte: 1936 erfolgten die letzten Bewilligungen. Zwar wurde auch später noch vereinzelt der Begriff verwendet – etwa für „Afrikaforschungen nach dem Weltkriege“ oder im Zusammenhang mit dem „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“. Da war das Programm selbst aber längst abgewickelt beziehungsweise mit einzelnen Strängen in die Zuständigkeit der RFR-Fachsparten überführt (zu weiterführenden Informationen vergleiche auch den hier verlinkten Text).
Das Programm Gemeinschaftsarbeiten spielte auch und gerade in der Außendarstellung der Aktivitäten der DFG eine wichtige Rolle. Dies illustriert zunächst der Umstand, dass die hierfür zuständigen speziellen Sachverständigengruppen und Sonderkommissionen einen prominenten Platz im Organigramm des Vereins einnahmen (vgl. Abbildung 1).
Ausschnitt aus dem Geschäftsbereich der
Notgemeinschaft (1932).
Vollansicht
hier.
Notgemeinschaft 1933: 16-17.
Neben dieser organisatorischen Hervorhebung beeindruckt aber auch der für diese Zeit ungewöhnlich hohe Aufwand für Maßnahmen der Öffentlichkeitsarbeit. So nutzte die DFG nicht nur ihre Tätigkeitsberichte zur breiten Berichterstattung über die ersten Erfolge einzelner Arbeiten. Auch die DFG-Schriftenreihe „Deutsche Forschung“ wurde intensiv genutzt, um in fokussierten Überblicksdarstellungen sowie in gesondert herausgegebenen Themenheften (zum Beispiel zu Metallforschung, Deutsche Volkskunde, Landwirtschaftswissenschaft oder Holzforschung) ausführlich über den Fortgang der Arbeiten in diesen „Flaggschiff“-Programmen zu berichten.
Im Rahmen der Gemeinschaftsarbeit Metallkunde, die von der 1919 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Materialkunde e.V. (DGM) „als erstes Schwerpunktprogramm der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (später DFG)“ bezeichnet wird, wurde deutlich der volkswirtschaftliche Nutzen hervorgehoben, den diese Forschung versprach. Dies zeigt exemplarisch die folgende Infobox mit einem Auszug aus der DFG-Zeitschrift „Deutsche Forschung“.
„Die Notwendigkeit, den großen Arbeitermassen Deutschlands Arbeit und damit Brot zu liefern, zwingt zur Bereitstellung großer Mengen von Werkstoffen, welche von ihnen nicht nur für den heimischen Bedarf verarbeitet, sondern auch für die Ausfuhr in möglichst hochwertige Erzeugnisse der mannigfaltigsten Art verwandelt werden müssen. Unter ihnen nehmen neben den Rohstoffen für die Textilindustrie und denen der chemischen Industrie die bedeutendste Stellung die Metalle ein, ohne welche heute kein Ingenieurbau, keine Energiegewinnung und Energieübertragung von einigem Ausmaße und kein Verkehrsmittel denkbar ist, von den Werkzeugen der Industrie, des Handwerks und des Landmannes ganz abgesehen. Die Anforderungen, welche an die metallischen Werkstoffe hinsichtlich ihrer physikalischen, mechanischen und chemischen Eigenschaften gestellt werden, sind unendlich mannigfaltig, und ständig treten neue hinzu, deren Befriedigung den Metallurgen immer und immer wieder vor neue Probleme stellt.
Diese in weiten Kreisen bekannten Tatsachen zeigen, daß das Gebiet der Metalle und der mit ihnen zusammenhängenden Dinge zu denen gehört, welche der weiteren Erforschung dringend bedürfen, und der mit der bisherigen Entwicklung der Metallurgie Vertraute weiß, daß die Bearbeitung dieses Feldes reiche Früchte voraussehen läßt, da das wissenschaftliche Rüstzeug für die Metallforschung vorhanden ist, seitdem Physik, Chemie und physikalische Chemie uns ein fast vollständiges Bild vom Aufbau der Materie und den sie beherrschenden Gesetzen geliefert haben.“
Quelle: Notgemeinschaft 1928: 27.
Um einen entsprechenden Nutzen zu erzielen, wurden konkrete Hauptgebiete definiert:
Als weitere Hauptgebiete listet die Übersicht die Themen
Illustration zu einem Vorhaben im Rahmen der Gemeinschaftsarbeit Metallforschung.
Quelle: Körber, 1928: 67.
Die Metallforschung war allein vom Umfang einer der Schwerpunkte auf dem Gebiet der Gemeinschaftsarbeiten – was sich nicht zuletzt an der Zahl dort geförderter Einzelmaßnahmen ablesen lässt (vgl. Tabelle am Ende dieses Textes).
Beim Atlas der deutschen Volkskunde handelte es sich um ein Großprojekt, in dessen Rahmen mit heute kaum vorstellbarem Aufwand eine Vermessung volkskundlicher Bräuche erfolgte. Für den Atlas wurde mit dem Referat für deutsche Volksforschung eine eigene Geschäftsstelle in unmittelbarer Nachbarschaft zum Sitz der DFG in Berlin eingerichtet. Die interdisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppe setzte einen Fragebogen mit fast 250 Hauptfragen ein, die in weitere Nebenfragen unterteilt waren, um über 20.000 sogenannte Gewährspersonen zu Fragen der Ernährung, des Liedguts, zu Tischsitten, Glaubensformen und vielem anderem mehr zu befragen. Das Material wurde in den Jahren 1937 bis 1939 aufgearbeitet.
Visualisierung zu den im Rahmen des Atlas' befragten Gewährspersonen (Stand und Beruf).
Quelle: Notgemeinschaft 1934: 63.
Nach der Überführung in den Reichsforschungsrat (RFR) wurde das Projekt vom Verein Ahnenerbe e.V., der unter Leitung von Heinrich Himmler stand, vereinnahmt. In diesen Jahren erhielt der Fragebogen eine spezifisch nationalsozialistische Handschrift, indem er nun auf rassenkundliche Grundlagen volkskundlicher Wissenschaft verpflichtet wurde. Die Aktivitäten erschöpften sich weitgehend in völkisch rassistischer Deklamation und der Atlas verlor damit sein wissenschaftliches Innovationspotenzial (Schmoll, 2010: 385).
Viele Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Projekt mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft wieder aufgenommen und von 1958 bis 1984, nun angesiedelt in Bonn, fortgeführt. Seitdem lagern die etwa 4,5 Millionen Karteikarten dort in einem Zentralarchiv und warten darauf, für weitere wissenschaftliche Zwecke aufbereitet zu werden.
Beispielfrage aus dem Volkskunde-Atlas: Werden von den Kindern oder für die Kinder Flöten oder Pfeifen aus Weiden- oder Haselzweigen hergestellt?
Quelle: Notgemeinschaft 1934: 37.
Die folgende Übersicht weist die insgesamt 40 Gemeinschaftsarbeiten aus, die von der DFG in den Jahren 1926 bis 1936 gefördert wurden (entsprechend markiert sind auch Anträge zu Gemeinschaftsarbeiten, die über diesen Zeitraum hinaus gefördert wurden, wie etwa im Falle der Meister-Eckhart-Ausgabe). GEPRIS Historisch dokumentiert insgesamt knapp tausend Anträge, die diesen Programmen zuzuordnen sind. Zahlenmäßig heraus ragt dabei die Gemeinschaftsarbeit „Landwirtschaftliche Forschung“ (93 Anträge). Andere Gemeinschaftsarbeiten erscheinen dagegen mit sehr wenigen oder gar ohne Nachweis, etwa die Luftfahrtforschung (drei Fälle) oder „Wissenschaftliche Grundlagen des Bergbaus“ (ein Fall). Hierzu ist grundsätzlich anzumerken, dass dies nicht zwangsläufig als Beleg dafür zu lesen ist, dass diese Gebiete auf nur wenig Nachfrage in der deutschen Wissenschaft stießen. Vielmehr zeigt sich hier ein Problem der Quellenlage: Tatsächlich ließ sich nicht bei jeder für GEPRIS Historisch erschlossenen Fördermaßnahme erkennen, ob und wenn ja zu welcher Gemeinschaftsarbeit ein Bezug besteht. Die identifizierten Fälle geben so zwar einen Eindruck von den Themen, die im Einzelnen behandelt wurden. Sie vermitteln aber sicher kein vollständiges Bild der DFG-geförderten Forschung zu Gemeinschaftsarbeiten jener Zeit.
Interessieren Sie sich für Anträge, die zu einer bestimmten Gemeinschaftsarbeit eingereicht wurden? Per Klick auf die Anzahl der Anträge je Programm erhalten Sie eine Liste aller entsprechend markierten Förderfälle in GEPRIS Historisch.
Tabelle 1: Liste der geförderten Gemeinschaftsarbeiten
Nr. | Titel | Anträge (N) |
---|---|---|
1 | Metallforschung | 62 |
2 | Angewandte Geophysik | 26 |
3 | Ausbreitung des Schalls in der freien Atmosphäre | 9 |
4 | Arbeitsvorgang in der Wärmekraftmaschine | 17 |
5 | Strömungsforschung | 50 |
6 | Luftfahrtforschung | 3 |
7 | Versuchsflugzeug für Höhenforschung | 6 |
8 | Schiffbauforschung | 15 |
9 | Elektrotechnik | 11 |
10 | Uhrenforschung und Zeitmesskunde | 5 |
11 | Wissenschaftliche Grundlagen des Bergbaues | 1 |
12 | Astronomische Forschungen (insbes. Astronomisches Zonenunternehmen, Sonnenfinsternisbeobachtungen) | 89 |
13 | Strahlenkunde | 58 |
14 | Durchgringende Strahlung | 5 |
15 | Theoretische und praktische Medizin (insbes. Kropf-, Tuberkulose-, Syphilisforschung, Stoffwechsel, Wasserhaushalt, Grundumsatz, Physiologie des Zentralnervensystems, Vitamine und Hormone, Ernährung) | 28 |
16 | Eiweißkonstitution und Eiweißstoffwechsel | 6 |
17 | Arbeitsphysiologie | 8 |
18 | Sportphysiologie | 10 |
19 | Gewerbephysiologie und Gewerbehygiene | 12 |
20 | Serologische Forschung | 25 |
21 | Ruhrschutzimpfung | 3 |
22 | Fragen der Erbschädigung durch Röntgenstrahlen | 5 |
23 | Rassenforschung (insbes. Anthropologische Erhebung der deutschen Bevölkerung, anthropologische, erbpathologische, soziologische Erhebungen in geschlossenen Bezirken, Untersuchungen zur empirischen Erbprognose, Zusammenhang von genialer Begabung und geistiger Abnormalität, Zwillingsforschung) | 45 |
24 | Vergleichende Völkerpathologie | 3 |
25 | Kriminalbiologische Untersuchungen (Psychiatrische Zwillingsforschung) | 12 |
26 | Landwirtschaftliche Forschung | 93 |
27 | Forstwirtschaftliche Forschung | 5 |
28 | Ernährungsphysiologie der Pflanzen | 38 |
29 | Bekämpfung von pflanzlichen und tierischen Schädlingen | 39 |
30 | Limnologie (insbes. Bodenseeforschung) | 19 |
31 | Deutsche Atlantische Expedition auf der „Meteor“ | 17 |
32 | Deutsche Grönland-Expedition Alfred Wegener | 20 |
33 | Biologische Expeditionen (u.a. Sunda-Expedition) | 8 |
34 | Atlas der deutschen Volkskunde | 48 |
35 | Vor- und frühgeschichtliche Erforschung des deutschen Ostens (Wall- und Wehranlagen) | 32 |
36 | Saarforschung (Saarforschungsgemeinschaft) | 2 |
37 | Ausgrabungen in Uruk (Warka) | 32 |
38 | Zwischenstaatliche Beziehungen | 6 |
39 | Deutsche historisch-geographische Forschung | 0 |
40 | Meister-Eckhart-Ausgabe | 61 |
Insgesamt | 934 |
Flachowsky, Sören, 2008: Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart.
Körber, Friedrich, 1928: Neue Fortschritte auf dem Gebiete der Elektro-Stahlerzeugung, in: Deutsche Forschung. Aus der Arbeit der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (Deutsche Forschungsgemeinschaft), Heft 3, Metallforschung, Berlin: 66-74.
Notgemeinschaft 1926: Zwölfter Bericht der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (Deutsche Forschungsgemeinschaft) über ihre Tätigkeit vom 1. April 1932 bis zum 31. März 1933, Berlin.
Notgemeinschaft, 1928: Deutsche Forschung. Aus der Arbeit der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (Deutsche Forschungsgemeinschaft), Heft 2, Denkschrift über Gemeinschaftsarbeiten, Berlin.
Notgemeinschaft, 1934: Deutsche Forschung. Aus der Arbeit der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (Deutsche Forschungsgemeinschaft), Heft 27, Methodische und technische Grundlagen des Atlas der deutschen Volkskunde, Berlin.
Schmoll, Friedemann, 2010: Vermessung deutscher Volkskultur. Der Atlas der deutschen Volkskunde und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1945–1975, in: Karin Orth/Willi Oberkrome (Hrsg.): Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920–1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik: 377-390, Stuttgart.