Vertriebene Antragstellende: Die „List of Discplaced German Scholars“

Das nur wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im April 1933 erlassene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums markiert den Beginn der Vertreibung von nach nationalsozialistischer Definition politisch unliebsamen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie solchen jüdischer „Abstammung“. Zunächst noch geltende Ausnahmeregelungen für im Ersten Weltkrieg aktive Soldaten sowie für „Altbeamte“ wurden 1935 aufgehoben, 1938 wurde das Gesetz zudem auf österreichische Universitäten ausgeweitet. Kathrin Orth hält hierzu fest, dass die „massenhafte Vertreibung von Wissenschaftlern durch das NS-Regime und ihre Flucht aus Deutschland […] sowohl von den Zeitgenossen als auch von der wissenschaftlichen Forschung als einschneidende Zäsur wahrgenommen und bewertet“ worden sind (Orth, 2016: 7). Wie auch die DFG haben viele Wissenschaftsorganisationen und Hochschulen ihre NS-Vergangenheit aufbereitet und stellen auf ihren Homepages sowie in Form oft aufwendig bearbeiteter wissenschaftshistorischer Studien Materialien zum Thema bereit. Michael Grüttner und Sven Kinas haben solche Materialien verwendet, um im Sinne einer Metastudie Analysen zum quantitativen Gesamtumfang der Entlassungen 1933 bis 1945 zu erstellen. Grundlage hierfür waren Daten aus (Einzel-) Studien zu insgesamt 15 deutschen Universitäten. Ihren Analysen zufolge waren etwa 19 Prozent des Lehrkörpers der deutschen Universitäten – bezogen auf den Stand im Wintersemester 1932/33 – von den Vertreibungen betroffen (Grüttner/Kinas, 2007: 147).

Die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft im Ausland

Frühzeitig bildeten sich im Ausland Hilfsorganisationen, die sich um die Vermittlung der entlassenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ins Ausland kümmerten. Zu diesen gehören die in der Schweiz von dem selbst aus Deutschland vertriebenen Pathologen Philipp Schwartz gegründete Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, der britische Academic Assistance Council (AAC, später Council for Assisting Refugee Academics) sowie in den USA das „Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars“. Schwartz sah es als Aufgabe der Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland, in kritischer Anspielung an den ersten Namen der DFG, die professionellen Werte einer vorurteilsfreien Wissenschaft zu repräsentieren und ein Informationszentrum für internationale Hilfsorganisationen zu bilden. Er schreibt über den Erfolg in der Frühphase der Gründung der Organisation 1933 in Zürich: „Barely 8 weeks after my arrival in Zurich we had an impressive office, had voluntary and paid help that worked up to 14h a day, had an almost complete card index of the current and prospective victims of racial madness in the scientific field, and had become known to everyone seeking help and hope“ (Pauli, Sziranyi und Groß, 2020: 42, Schwartz, 1995). Auf Basis der von Schwartz erstellten Karteikarten und gesammelten Fragebögen sowie durch den britischen AAC gesammelten Informationen wurde im Jahr 1936 die „List of Displaced German Scholars“ mit 1.632 Einträgen zu entlassenen und vertriebenen deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern publiziert. Das Ziel der Liste war es, Universitäten und Ministerien außerhalb Deutschlands dabei zu unterstützen, die Verzeichneten auf Positionen im Ausland zu vermitteln. Sie enthält demnach laut Schwartz vor allem entlassene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die „verfügbar und in Not“ waren.

Die Markierung der Liste als „Strictly Confidential“ verweist auf deren diskrete Verteilung. Diese erschien notwendig, um die zum Teil noch in Deutschland verbliebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor weiteren Repressalien zu schützen. Viele der in der Liste verzeichneten Forscherinnen und Forscher fanden später im Ausland eine Anstellung, die Hauptmigrationsländer waren die USA, Großbritannien, die Schweiz, Israel sowie die Türkei. Die Migration ins Ausland hing auch von den bisherigen Kontakten der Vertriebenen, den Fachgebieten sowie von der politischen Haltung der Zielländer ab. Einige Einrichtungen nahmen besonders viele vertriebene Forscher auf. Prominent ist hier das Beispiel der „New School of Social Research“ in New York, die 1934 eine „University in Exile“ gründete, die vielen geflohenen Akademikern Arbeit gab (Fleck, 2015).

BILD: Die Originalausgabe der „List of Displaced German Scholars“ mit dem Hinweis „Strictly Confidential“

Die Türkei hat aktiv um aus Deutschland vertriebene Forscherinnen und Forscher geworben. An der Fakultät Landwirtschaft in Ankara unterrichteten jüdische Professoren aus Deutschland. Der Film „Haymatloz“ dokumentiert die Familiengeschichte von in die Türkei migrierten Forscherinnen und Forschern.

Quelle: © Mindjazz Filmvertrieb, Köln.

Vielen Exilanten bot insbesondere auch die Türkei Zuflucht. Kemal Atatürk, der 1923 die Republik Türkei ausgerufen hatte und bis 1938 als deren Präsident wirkte, hatte sich unter anderem die Modernisierung der türkischen Universitäten zum Ziel gesetzt. Deutsche Wissenschaftler waren als Unterstützer hierfür sehr willkommen, sie erhielten in der Regel gut dotierte Positionen, verbunden mit der Verpflichtung, Türkisch zu lernen und auf Türkisch zu publizieren (Kubaseck und Seufert, 2008). Philipp Schwartz, der später selbst eine Professur in Istanbul annahm, gelang es in Verhandlungen mit der türkischen Regierung, selbst etwa 300 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an türkische Universitäten zu vermitteln und ihnen und ihren Familien die Migration zu ermöglichen (Pauli, Sziranyi und Groß, 2020: 43, Schwartz, 1995).

AUFBAU DER „LIST OF DISPLACED GERMAN SCHOLARS“ SOWIE ERGÄNZENDE QUELLEN

Die „List of Displaced German Scholars“ ist sortiert nach Disziplinen und Fachgebieten und enthält neben dem Vor- und Nachnamen die wissenschaftliche Position, den Titel, den Familienstand, die Sprachen, die letzten Positionen, etwaige Spezialgebiete und ob die Forscherinnen und Forscher aktuell eine (permanente) Position gefunden hatten (siehe folgende Infobox). Die häufigsten Nennungen an in der Liste (1936) verzeichneten Positionen entfallen auf Assistenten (23 Prozent), außerordentliche Professoren (21 Prozent), ordentliche Professoren (17 Prozent) und Privatdozenten (15 Prozent). In der Liste sind 74 Frauen verzeichnet, was einem Anteil von etwa 5 Prozent entspricht. Fachlich verortet sind die Vertriebenen laut der Liste zu 41 Prozent in den Geistes- und Sozialwissenschaften, 32 Prozent in den Lebenswissenschaften, 23 Prozent in den Naturwissenschaften und 4 Prozent in den Ingenieurwissenschaften. Ob die Vertreibung aus rassistischen oder politischen Gründen geschah, wird in der Liste nicht spezifiziert.

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Quelle: Nachdruck von Strauss et al., 1987, S. 104.

Die Liste wurde im Herbst 1937 durch eine „Supplementary List“ um 154 weitere Einträge ergänzt. Für später erfolgte Vertreibungen ist der Bericht des „Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars“ aus dem Jahr 1941, der noch einmal 234 weitere Einträge verzeichnet, eine weitere Quelle. Alle drei Quellen sind als Nachdruck in dem Buch „Emigration – Deutsche Wissenschaftler nach 1933. Entlassung und Vertreibung“ (Strauss et al., 1987) erschienen. Insgesamt dokumentieren die drei Listen genau 1.895 Personen (einige werden in mehr als einer Liste erwähnt), die aufgrund der NS-Politik ihre Stellen verloren haben.

Die Zuverlässigkeit der Quellen, insbesondere der 1936-er-Displaced-Liste, wird von der historischen Forschung generell als hoch erachtet, bisher konnten nur sehr wenige Einzelfälle identifiziert werden, die dort irrtümlich enthalten sind, wie Heinrich von Ficker, Wilhelm Flitner, Eberhard von Künßberg, Karl Kötschau, Robert Rössle und August Skalweit. Umgekehrt darf man allerdings nicht davon ausgehen, dass die herangezogenen Verzeichnisse ein vollständiges Abbild der Vertreibungen jener Jahre liefern. So fehlen insbesondere aus österreichischen Universitäten vertriebene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auf die das Gesetz 1938 ausgeweitet wurde, aber auch eine Vielzahl weiterer Einzelfälle, welche die historische Wissenschaftsforschung erst Jahre später identifiziert hat (Hagemann und Krohn, 1999, Grüttner und Kinas, 2007, Orth, 2016).

Vertriebene Antragstellende

Um in GEPRIS Historisch gezielt recherchierbar zu machen, wer von den DFG-Antragstellenden der Jahre 1920 bis 1945 in den herangezogenen Quellen als vertriebene Person geführt ist, wurden die Namen der ermittelten Personen mit den Unterlagen zu diesen DFG-Anträgen abgeglichen. 537 vertriebene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten dabei als ehemalige DFG-Antragstellende identifiziert werden. 468 dieser Personen waren in der 1936 veröffentlichten Liste enthalten, aus der Zusatzliste des Folgejahres kommen 56 Personen hinzu. Der zuletzt publizierte Bericht des Emergency Committee vervollständigt das Bild um weitere 13 vertriebene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Über den folgenden Link erhalten Sie eine Übersicht aller in GEPRIS Historisch nachgewiesenen Vertriebenen aus den genannten Quellen.

Die Displaced-Liste als Quelle der Forschung

Die hier für GEPRIS Historisch herangezogenen Vertriebenen-Quellen bilden seit längerer Zeit eine gut genutzte Basis für wissenschaftshistorische und sozialwissenschaftliche Studien. Bereits 1937 hat der amerikanischen Soziologe Edward Y. Hartshorne (1937) auf Basis der Daten der ersten Displaced-Liste eine Studie veröffentlicht, die den Status quo der „Selbstdemontage“ und Gleichschaltung des deutschen Wissenschaftssystems dokumentiert. Der Fachkollege David E. Sutherland (1974) nutzte die Liste, um die fachliche Zusammensetzung der Vertriebenen zu erforschen und vertiefte die Ergebnisse in einer Fallstudie zur Auswirkung der Vertreibung und Migration von Soziologen von Deutschland in die USA auf die Forschungsinhalte in den beiden Ländern. Für das Buch „Surviving the Swastika“ der Wissenschaftshistorikerin Kristie Macrakis (1993) diente die Liste als Grundlage für Recherchen zur Vertreibung von Forscherinnen und Forschern von den Kaiser-Wilhelm-Instituten im NS-Deutschland.

In einer aktuellen Studie nutzte der Ökonom Fabian Waldinger das Verzeichnis, um unter dem griffigen Titel „Bombs, Brain, and Science“ für ausgewählte Fächer die langfristigen Folgen der Vertreibung für die wissenschaftliche Produktivität der davon betroffenen Institute zu untersuchen. Der von ihm vorgenommene Vergleich mit der kriegsbedingten Zerstörung institutioneller Infrastrukturen („bombs“) führt drastisch vor Augen, dass die Vertreibung von deutlich tiefgreifender und auch länger anhaltender Wirkung war. Exemplarisch belegen lässt sich das an den weiteren Lebenswegen von aus Deutschland vertriebenen Wissenschaftlern, die einen Nobelpreis erhalten hatten oder später erhalten sollten (vgl. Themenseite Nobelpreisträger). Von den 43 bei der DFG als Antragstellende der Jahre 1920 bis 1945 verzeichneten Nobelpreisträgern finden sich in den Vertriebenenlisten neun Personen wieder, nämlich die Physiker James Franck, Otto Stern, Albert Einstein und Max Born, der Chemiker Gerhard Herzberg sowie die Mediziner Otto Meyerhof, Otto Warburg, Hans Adolf Krebs und Ernst Chain.

Hier herausgestellt sei schließlich auch die 2016 veröffentlichte Studie „Die NS-Vertreibung der jüdischen Gelehrten. Die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen“ von Karin Orth. Die Autorin beschreibt dort ausführlich die Biografien von 75 vertriebenen Antragstellenden und/oder Gremienmitgliedern der DFG, von denen viele auch in der „List of Displaced German Scholars“ enthalten sind. Orth stellt dabei die Fälle von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besonders heraus, welche die Vertreibungs- und Vernichtungspolitik in NS-Deutschland nicht überlebten. Dazu gehören Wissenschaftler, die an der Lage psychisch zugrunde gingen ( Leopold Langstein, Martin Hahn oder Fritz Haber, der in seiner Rücktrittserklärung als Präsidiumsmitglied der Notgemeinschaft die Unvereinbarkeit seiner Tätigkeit als Wissenschaftler mit den Rahmenbedingungen des Nationalsozialismus anprangert) oder sich schon kurz nach der Machtergreifung umbrachten ( Erich Caspar, Heinrich Bechhold, Martin Kochmann, Otto Lipmann). Orths Studie erinnert schließlich auch an Wissenschaftler, die „der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik unmittelbar zum Opfer fielen“  wie etwa die Dermatologen Karl Herxheimer und Abraham Buschke, der Mediziner Hermann Strauss, der Hematologe Hans Hirschfeld und der Historiker Siegmund Hellmann, die zwischen 1942 und 1944 im KZ Theresienstadt ermordet wurden, sowie die Mediziner Hermann Freund und Ernst Herzfeld und die Rechtshistorikerin Erika Sinauer, die dieses Schicksal im KZ Ausschwitz traf.

Literatur

Fleck, Christian, 2015: Etablierung in der Fremde: Vertriebene Wissenschaftler in den USA nach 1933.

Grüttner, Michael und Kinas, Sven, 2007: Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933–1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 55, 1: 123–186.

Hagemann, Harald, Krohn, Claus-Dieter (Hrsg.), 1999: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, München.

Hartshorne, Edward Y., 1937: The German Universities and National Socialism, London.

Kubaseck, Christopher, Seufert, Günter (Hrsg.), 2008: Deutsche Wissenschaftler im türkischen Exil: Die Wissenschaftsmigration in die Türkei 1933–1945.

Macrakis, Kristie, 1993: Surviving the Swastika: Scientific Research in Nazi Germany, New York.

Orth, Kathrin, 2016: Die NS-Vertreibung der jüdischen Gelehrten – Die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen, Göttingen.

Pauli, Roman, Sziranyi, Janina und Groß, Dominik (2019): Der Pathologe Philipp Schwartz (1894–1977). Vom NS-Opfer zum Initiator der „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“, in: Der Pathologe, 40, 5: 548–558.

Schwartz, Philip, 1995: Notgemeinschaft: Zur Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933 in die Türkei.

Strauss, Herbert, Buddensieg, Tilmann und Düwell, Kurt (Hrsg.), 1987: Emigration – Deutsche Wissenschaftler nach 1933 – Entlassung und Vertreibung, Berlin.

Sutherland, David Earl, 1974: On the Migration of Sociological Structures, 1933–1941: A forgotten episode in the history of American Sociology and a case study in the Sociology of Sociology, in: Current Sociology, 22, 1-3: 87-121.

Waldinger, Fabian, 2016: Bombs, Brains, and Science: The Role of Human and Physical Capital for the Creation of Scientific Knowledge, in: Review of Economics and Statistics, 98, 5: 811-831.

  • Zuletzt aktualisiert: 15.11.2023 13:00
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